Die "Süddeutsche Zeitung" verdächtigt den stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten und Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, mit 17 Jahren ein antisemitisches Flugblatt verfasst zu haben - was der bestreitet. Um die "SZ"-Berichterstattung ist jetzt eine hitzige Debatte entbrannt.
Henning Kornfeld | 28. August 2023 um 14:17
Hubert Aiwanger (Foto: StMWi/R.Kerl)
Stefan Niggemeier setzt sich bei "Übermedien" vor allem mit einem am Samstag auf der Seite 3 der "SZ" erschienenen Text mit der Überschrift "Das Auschwitz-Pamphlet" auseinander. Die Autoren berichteten nicht nüchtern über die Vorwürfe gegen Aiwanger, der Text gebe vielmehr all jenen Munition, die der Zeitung unterstellten, sie wolle Aiwanger sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl wegschreiben, so der Medienkritiker. "Es ist ein Text, dem jede Distanz zu sich selbst fehlt", moniert er. Vom ersten Absatz an sei das Seite-3-Stück mit seiner eigenen möglichen Wirkung beschäftigt: "Es ist schwer, daraus nicht auch den dringenden Wunsch zu lesen, dass diese Wirkung eintreten möge. Die Botschaft: Der Chef der Freien Wähler erlebt gerade einen Höhenflug, der nicht gut ist und der eigentlich längst hätte enden müssen. Aber ich, dieser Text, diese Recherche, diese Zeitung, kann ihn jetzt stoppen."
In noch schärferer Form als Niggemeier erhebt Alexander Kissler in der "Neuen Zürcher Zeitung" den Kampagnevorwurf gegen die "Süddeutsche": "Die 'SZ' aber behandelt anonyme Aussagen wie Tatsachen und verwechselt Journalismus mit Aktivismus. So schadet sie der politischen Kultur", schreibt er: "Die 'SZ' betreibt das Geschäft von Aiwangers politischer Konkurrenz und nennt es Journalismus", so der "NZZ"-Kommentator weiter. Ohne "personelle Konsequenzen" werde die Zeitung ihre Reputation nicht wiederherstellen können.
Die "Süddeutsche Zeitung" hatte am Freitagabend erstmals über die Vorwürfe gegen Aiwanger berichtet. Unter Berufung auf mehrere anonyme "Personen" schrieb sie, der bayerische Politiker werde verdächtigt, als 17-jähriger Schüler ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben. Er sei deswegen von seiner Schule bestraft worden. Die Zeitung zitierte auch aus dem Statement eines Aiwanger-Sprechers. Der Politiker bestreitet darin, das Flugblatt "produziert" zu haben und droht für den Fall einer Berichterstattung mit "juristischen Schritten inklusive Schadenersatzforderungen". Einen Tag später bekannte dann Aiwangers älterer Bruder Herbert in einem Interview mit der Mediengruppe Bayern, Verfasser des Pamphlets zu sein. In einer ebenfalls am Samstag veröffentlichten schriftlichen Erklärung räumte Hubert Aiwanger aber ein, dass seinerzeit in seiner Schultasche ein oder mehrere Exemplare des Flugblatts gefunden worden seien, er daraufhin zum Direktor einbestellt wurde und als Strafe ein Referat halten musste.
Presserechtler diskutieren vor diesem Hintergrund, ob die "SZ" genügend Fakten zusammengetragen hat, die eine Verdachtsberichterstattung rechtfertigen. Bei Twitter/X kommt Udo Vetter zu dem Ergebnis, es fehle ihr "insgesamt an einem Mindestbestand an sogenannten Beweistatsachen": "Ich wäre nicht verwundert, wenn Aiwanger die Süddeutsche Zeitung in Grund und Boden klagt", schlussfolgert er. Der Presseanwalt Carsten Brennecke weist, ebenfalls bei Twitter/X, überdies auf einen speziellen Aspekt hin, der die Verdachtsberichterstattung als "klar rechtswidrig" erscheinen lasse: Die "SZ" habe das Dementi Aiwangers zunächst nur hinter der Paywall und nicht im frei zugänglichen Vorspann ihrer Berichte veröffentlicht.
Argumente, die möglicherweise für eine Zulässigkeit der Berichterstattung sprechen, nennt hingegen der Rechtsanwalt Thomas Stadler: "Aiwanger räumt ein, Flugblätter im Schulranzen gehabt zu haben und kann sich nicht mehr erinnern, ob er welche verteilt hat. Er wurde von der Schule sanktioniert. Es gibt noch ein paar Zeugen, von denen die SZ möglicherweise eidesstattliche Versicherungen hat und von denen wir nicht im Detail wissen, was sie der SZ berichtet haben. Das könnte schon reichen für eine Verdachtsberichterstattung."
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat die Freien Wähler unterdessen für Dienstag zu einer Sondersitzung des Koalitionsausschusses einbestellt. Hubert Aiwangers Erklärung von Samstag lasse viele Fragen offen, die er persönlich beantworten müsse.
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